Freitag, 4. November 2011

Wenn Du Gott nicht verstehst...




Über die Unbegreiflichkeit Gottes

Im Monat November – den wir auch als den Armen-Seelen-Monat bezeichnen – sind wir als Gläubige mit der Unbegreiflichkeit Gottes konfrontiert, wie zu kaum einer anderen Zeit des Jahres. Wir gedenken unserer Verstorbenen, wir denken oft auch an ihr Leid und ihre Krankheit, die schließlich zum Tod geführt hat. Wir denken an Menschen, die unschuldig Opfer von Verkehrsunfällen wurden oder die der Tod plötzlich und unerwartet getroffen hat. Und in unserer Trauer suchen wir nach Gründen und Erklärungen. Auch die Schuldfrage steht mitten in diesem Trauerprozess wie ein Felsblock, der sich nicht bewegen lässt, der uns den Weg zur Wahrheit und den Blick auf die Güte Gottes versperrt. Denn zumeist finden wir keine Schuldigen und dann muss Gott herhalten. Schließlich ist er allmächtig. Er ist der Herr über Leben und Tod. Warum hat er also den Tod meines Mannes, den Tod meines Kindes, die Krankheit eines geliebten Menschen – warum hat er diesen Schicksalsschlag zugelassen?
Vor einiger Zeit hat mir eine junge Mutter folgende Zeilen geschrieben: „Kürzlich wurde in den Nachrichten von einem 4-jährigen Mädchen berichtet, das von seinem Vater brutal misshandelt und missbraucht wurde – über Wochen und Monate hinweg. Das bekommen mein Mann und ich nicht auf die Reihe....... wo war Gott dabei? Als Eltern geht uns da die Galle hoch, und es ist eine mentale Anstrengung, sich da auf die Güte und Liebe Gottes zu stützen“.

Vorwürfe gegen Gott

Dazu kommt die Versuchung, dass wir ganz rational erklären wollen, warum es Gott nicht geben kann bzw. warum Gott nicht gut ist. In unserer säkularisierten Gesellschaft lässt sich das sehr schön beobachten – auf verschiedenen Ebenen. In der Politik, im Fernsehen, in Talkshows, in TV-Serien und –Werbungen ja bis hinein in die Kirche. Man sagt, es gibt zwei Möglichkeiten:
  1. Es kann keinen Gott geben, zumindest keinen Gott der Liebe. Denn ein guter Gott hätte diese Katastrophe niemals zugelassen. Wenn Gott uns wirklich lieben würde, dann würde er nicht einfach zuschauen, wie tausende unschuldige Kinder bei einem Erdbeben oder einer anderen Naturkatastrophe ums Leben kommen.
  2. Es gibt einen Gott. Er hat uns Menschen und die ganze Schöpfung ins Dasein gerufen, aber er kümmert sich nicht um uns. („Deismus“). Er steht unserem Schicksal völlig gleichgültig gegenüber.
Man könnte das eine Win-win-Situation für die Gegner der Kirche und die Atheisten oder Agnostiker bezeichnen, denn Gott kommt in beiden Szenarien, die in der öffentlichen Meinung und in den Medien wie Mantras wiederholt werden, immer schlecht weg. Gott ist immer der Schuldige.
Wie schnell beginnen wir an Gott zu zweifeln. Wie oft werden wir an der Unbegreiflichkeit Gottes irre. Wie wenig Vertrauen haben wir in die göttliche Vorsehung.

Die Antwort der Kirche

Die Heilige Schrift weiß um diese enorme Herausforderung für den Menschen. Im Buch Jesaja stehen die bekannten Worte: „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege - Spruch des Herrn. So hoch der Himmel über der Erde ist, so hoch erhaben sind meine Wege über eure Wege und meine Gedanken über eure Gedanken.“ (55,8)
Auch die Kirche ist sich dieser Herausforderung bewusst, wenn sie im Katechismus der Katholischen Kirche schreibt: „Durch die Erfahrung des Bösen und des Leides kann der Glaube an den allmächtigen Vater auf eine harte Probe gestellt werden. Zuweilen erscheint Gott abwesend und nicht imstande, Schlimmes zu verhüten. Nun aber hat Gott der Vater seine Allmacht auf geheimnisvollste Weise in der freiwilligen Erniedrigung und in der Auferstehung seines Sohnes gezeigt, durch die er das Böse besiegt hat. Somit ist der gekreuzigte Christus „Gottes Kraft und Gottes Weisheit. Denn das Törichte an Gott ist weiser als die Menschen, und das Schwache an Gott ist stärker als die Menschen“ (1 Kor 1, 25). In der Auferweckung und Erhöhung Christi hat der Vater „das Wirken seiner Kraft und Stärke“ entfaltet und zeigt, „wie überragend groß seine Macht sich an uns, den Gläubigen, erweist“ (Eph 1, 19).“ (272)
Die selige Jungfrau und Gottesmutter Maria ist das Beispiel dieses Glaubens und dieses Vertrauens auf die liebende und gütige Vorsehung Gottes schlechthin. Obwohl sie nicht verstand und den Engel fragte „wie soll das geschehen?“ hat sie ihre Zustimmung zur Gottesmutterschaft gegeben im Glauben und Vertrauen, denn „für Gott ist nichts unmöglich“ (Lk 1, 37). „Nichts vermag daher unseren Glauben und unsere Hoffnung so zu bestärken als wenn wir es in unseren Herzen verankert tragen, dass Gott alles vermag.“ (KKK 274)
So kann man mit der Zeit entdecken, dass Gott in seiner allmächtigen Vorsehung sogar aus den Folgen eines durch seine Geschöpfe verursachten moralischen Übels etwas Gutes zu ziehen vermag. Josef sagt zu seinen Brüdern: „Nicht ihr habt mich hierher geschickt, sondern Gott ... Ihr habt Böses gegen mich im Sinne gehabt, Gott aber hatte dabei Gutes im Sinn, um viel Volk am Leben zu erhalten“ (Gen 45, 8; 50, 20). Aus dem schlimmsten moralischen Übel, das je begangen worden ist; aus der durch die Sünden aller Menschen verschuldeten Verwerfung und Ermordung des Sohnes Gottes, hat Gott im Übermaß seiner Gnade das größte aller Güter gemacht: die Verherrlichung Christi und unsere Erlösung. Freilich wird deswegen das Böse nicht zu etwas Gutem.

Die Heiligen und die Unbegreiflichkeit Gottes

„Wir wissen, dass Gott bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten führt“ (Röm 8, 28). Das bezeugen die Heiligen immer wieder.
"Würdest du ihn begreifen, es wäre nicht Gott." - Das ist ein Satz, den der hl. Augustinus geprägt hat. Er, der in seinem Leben schwere Glaubenskrisen durchmachen musste und große Prüfungen zu bestehen hatte, sagte in solchen Situationen: „Deus semper maior – Gott ist immer größer“. Und meint damit: Gott „steht drüber“, die Weisheit und der Plan Gottes ist größer als unsere Einsicht. Der hl. Augustinus wurde so zu einem sehr demütigen Menschen, der sich der Größe Gottes und der eigenen Armseligkeit immer mehr bewusst wurde.
Vor fast 10 Jahren ist in Rom der vietnamesische Kardinal François Xavier Van Thuan im Alter von 74 Jahren gestorben. Papst Johannes Paul II. feierte für diesen außerordentlichen Mann das Requiem. Kard. Van Thuan war bis zu seinem Tod Präsident des Päpstlichen Rates für Gerechtigkeit und Frieden („Justitia et Pax“) in Rom. Zuvor war er 13 Jahre lang um seines Glaubens willen in kommunistischer Gefangenschaft, davon 9 Jahre in der gefürchteten Isolationshaft des Vietcong. 1988 wurde er freigelassen und im Hl. Jahr 2000 hielt er die Jahresexerzitien für den Papst und die römische Kurie, wo er Zeugnis gab von dieser schweren Zeit. Dabei machte er auch ein Geständnis, das beweist, dass er inmitten dieser großen Prüfungen nie an der Güte Gottes gezweifelt hat und darauf vertraute, dass Gott schon wisse, warum er das alles zulasse. Getragen von dieser Überzeugung konnte man ihn nicht brechen – nicht einmal seinen guten Humor konnte man ihm nehmen.

„Als alles anders kam, als wir dachten“ – Wahre Begebenheit

Folgender Brief stammt von Robert Matthews aus Norfolk (U.S.A.) und sagt mehr als viele theologische Erklärungen:

Ich möchte von einem Ereignis berichten, das mich tief in meiner Seele erschüttert hat. Im Herbst 2001 bekamen meine Frau Cathy und ich die Gewissheit, dass unser erstes Kind unterwegs war. Vor Freude plante Cathy einen Besuch bei ihrer Schwester in Kalifornien. Der Flug wurde für den 11. September gebucht. Auf dem Weg mit dem Auto zum Flughafen beteten wir zu Gott um Beistand für eine sichere Reise für Cathy und das kleine Baby. Kaum hatten wir das „Amen“ gesprochen, vernahmen wir ein lautes „Plopp“ und das Auto schlingerte heftig. Ein Reifen war geplatzt. So schnell wie möglich wechselte ich ihn gegen den Ersatzreifen aus. Leider erreichten wir den Flug nicht mehr und mussten wieder nach Hause fahren. Cathy war sehr enttäuscht. Sie hatte sich so auf den Flug gefreut.
Zu Hause angekommen erhielt ich einen Telefonanruf von meinem Vater. Er war pensionierter Feuerwehrmann des FDNY (Fire Department New York). Seine Stimme ließ mich aufhorchen. Aufgeregt fragte er nach der Nummer des Flugzeugs, mit dem Cathy geflogen sei. Ich erzählte ihm von unserer Panne. Tief bewegt teilte er uns mit, dass genau dieses Flugzeug jenes war, das in den Südturm des World Trade Center gekracht und in Flammen aufgegangen war. Ich war bei dieser Nachricht so geschockt, dass es mir die Stimme verschlug.
Mein Vater teilte noch etwas mit: „Ich mache mich jetzt auf, um an der Unglücksstelle zu helfen. Ich kann doch nicht zu Hause herumsitzen, ich muss etwas tun!“ Ich war sehr besorgt um seine Sicherheit, insgeheim auch deswegen, weil er schon lange seinen Glauben als Christ verloren hatte. Wenn ihm etwas zustoßen würde...! Bevor er auflegte, sagte er: „Passt gut auf mein Enkelkind auf!“ Es waren die letzten Worte, die ich von meinem Vater gehört habe, denn er kam während der Bergungsarbeiten am eingestürzten World Trade Center ums Leben.
Meine tiefe Freude darüber, dass Gott ganz offensichtlich unser Gebet um Sicherheit für Cathy und das Baby erhört hatte, schlug plötzlich in Unverständnis und bittere Anklagen um und ich kam nahezu zwei Jahre lang nicht von meinen Vorwürfen los: Warum hat Gott mir den Vater genommen? Mein Sohn würde seinen Großvater nie mehr sehen können. Warum durfte mein Vater seinen Glauben nicht wieder gewinnen? Warum konnte ich mich nicht mehr von ihm verabschieden?
Doch dann kam alles anders. Vor zwei Monaten saß ich mit Cathy und unserem Sohn Jacky zu Hause, als es an der Tür klopfte. Ich sah Cathy an  - keiner von uns erwartete jemanden. Ich öffnete. Draußen standen ein Mann und eine Frau mit einem etwa 2-jährigen Kind. Der Mann sah mich an und fragte, ob mein Vater Jacob Matthews geheißen hatte. „Ja“, sagte ich. Da griff er bewegt nach meiner Hand und sagte: „Ich hatte nie die Gelegenheit, Ihren Vater zu treffen, aber es ist mir eine Ehre, jetzt seinem Sohn die Hand reichen zu können.“ Erstaunt sah ich ihn an. Dann begann er zu erzählen: „Meine Frau arbeitete gerade im World Trade Center, als der mörderische Flugzeugangriff erfolgte. Sie konnte weder flüchten noch sich befreien und wurde schließlich im Schutt eingeklemmt. Wissen Sie – es war besonders schlimm für sie, denn sie war schwanger. Ihr Vater war der Einzige gewesen, der sie aufgefunden, befreit und gerettet hat.“
Ich konnte die Tränen nicht zurückhalten, als ich daran dachte, dass mein Vater sein Leben hingegeben hatte, um andere Menschen zu retten. Aber schon begann seine Frau, ihren kleinen Jungen an der Hand, zu sprechen: „Da ist noch etwas, was Sie wissen sollten: Ich möchte Ihnen sagen, dass ich zusammen mit Ihrem Vater angesichts des Sterbens rings um uns gebetet und mit ihm über Gott gesprochen habe, während er mich aus dem Schutt herausgrub. Unser Beten und seine seelische Erschütterung haben ihn zu Gott geführt. Das habe ich in meinem Herzen gespürt.“
Als ich dies vernommen hatte, weinte ich bitterlich vor Überwältigung und mit einem tiefen inneren Glücklichsein. Mir war mit einem Mal bewusst: Gottes Wege sind nicht der Menschen Wege. Und ich betete im Stillen: „Verzeih mir, Vater im Himmel!“
Schließlich erfuhren wir noch etwas Wunderschönes. Die Eltern des kleinen Jungen sagten uns: „Als unser Baby geboren wurde, gaben wir ihm den Namen „Jacob Matthew“ zu Ehren jenes Mannes, der sein Leben hingab, damit eine Mama und ihr Baby leben konnten.“

Von Gott geliebt

Es ist immer gut, demütig und bescheiden zu bleiben. Menschliches Denken endet oft in einer Sackgasse selbstbezogener Kurzsichtigkeit und mangelnden Überblicks. Gottes Wege jedoch sind immer mit vorausblickender Weisheit und Liebe durchdacht, geplant und geleitet. Gott weiß tausend mögliche Pläne für unser Leben. Darunter ist auch der für uns beste. Und genau diesen bietet er an. Wenn uns das dann vielleicht manchmal als „enttäuschende Durchkreuzung“ unserer eigenen Wünsche und Pläne oder als „unverdientes schweres Leid“ erscheint, heißt es „abwarten“. Manchmal dauert es nur kurze Zeit, bisweilen aber auch Jahrzehnte oder vielleicht müssen wir bis nach den Tod warten, bis wir mit einem Mal voll Staunen Zusammenhänge erkennen, die uns genau zu unserem wunderbaren Leben geführt haben, bis wir die gütigen Pläne und die liebenden Fügungen Gottes erkennen, gegen die wir uns einst so aufgelehnt haben.
Seien wir gewiss: Gott liebt uns: Er hat uns geschaffen und erlöst. Er ist dazu selbst Mensch geworden und hat sein Leben freiwillig hingegeben. Er ist in den Sakramenten, besonders in der hl. Eucharistie für uns da und stärkt und hilft uns dadurch auf unserem irdischen Pilgerweg - durch alle Irrwege, Kreuzwege und Labyrinthe, denn GOTT IST GUT.

+++

Zuerst erschienen als Leitartikel im „Schweizerisch Katholischen Sonntagsblattes“ Nr. 23/11.
Anschließend auf kath.net ( http://www.kath.net/detail.php?id=33768 )

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen